Predatory Publishing – Aufgabe von Bibliotheken? Versuch einer Verortung

Der folgende Beitrag wurde kollaborativ von der Community of Practice zu Predatory Publishing verfasst. Er ist ein Einblick in unsere Arbeit und unsere Diskussionen und stellt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Finalität. Der Beitrag gibt eine Perspektive, die geprägt ist von unserer Arbeit im österreichischen Bibliothekswesen und damit auch begrenzt. Er soll ein Anstoss zur Reflexion und Diskussion sein, weshalb manche Passagen durchaus pointierter und provokanter geschrieben sind. Wir freuen uns über Feedback und Widerworte, gerne über die deutschsprachige Mailingliste wisskomm.

Die öffentliche Bibliothek bleibt als einer der wenigen „Dritten Orte“ (neben Arbeitsstätte und „Zuhause“) ohne Konsumationszwang und Erwartungsdruck weiterhin ein zentraler Ort zum Lernen und Arbeiten. Bibliotheken bemühen sich sehr, ihren Besucher:innen eine angenehme Atmosphäre zu bieten: ein einladender Ort, genügend Platz, unterschiedliche Raumangebote, stabile Strom- und Internetversorgung, gute Licht- und Klimaverhältnisse sind bereits seit geraumer Zeit Standard. Das Gebäude Bibliothek wird damit zu einem Treffpunkt, Ort des Verweilens und Austausches, ist Begegnungszone und Arbeitsort. Aber ist sie noch ein „Ort des Wissens“? Immer weniger findet man heutzutage in Lesesälen und Lernzentren Regale voller Bücher und Zeitschriften, und wenn, dienen sie eher als Kulisse denn als Arbeitsmaterial. Die Nutzung der bereitgestellten Literatur findet vielfach schon im digitalen Raum statt. Elektronische Literatur hat vielerorts längst die physischen Bestände in ihrer Nutzung überholt, welches kontinuierlich sinkende Ausleihzahlen untermauern.

Wer heute durch eine BWL-Bibliothek läuft, der fühlt sich wie in einem Möbelhaus, das mit Bücherattrappen in seinen Musterwohnzimmern eine heimelige und intellektuelle Atmosphäre zu erzeugen versucht. Zwar sind in der Bibliothek alle Bücher echt. Aber welchen Nutzen die Regale jenseits des schönen Scheins noch haben, ist eine offene Frage. 1

Entsprechend adaptierten Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten ihre Services und Angebote für ihre Nutzer:innen unter anderem im Bereich der Informationskompetenz, wobei dies im weiteren Sinne vor allem Digital Skills umfasst. Im Zentrum steht dabei die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Recherche, der Benutzung der elektronischen Medien, der Verwendung verschiedener Plattformen, der Literaturverwaltung, dem wissenschaftlichen Arbeiten oder dem kritischen Umgang mit Informationen und Quellen. Auf der anderen Seite sind Bibliotheken durch den Auf- und Ausbau ihrer elektronischen Bestände zu wichtigen Gesprächs-, Verhandlungs- und Geschäftspartnern der Verlage und Anbieter geworden, was sie in eine unvergleichbare Position gebracht hat, die Open-Access-Transformation zu fördern und voranzubringen.

Damit einhergehend bauten Bibliotheken in den letzten 15-20 Jahren sukzessive Services rund um Open Access und Open Science auf. Forschende, die bislang als reine Nutzer:innen der angebotenen Literatur auftraten, wurden zu einer neuen Ziel- sowie Stakeholdergruppe und „forschungsnahe Services“ zu einem zentralen Aufgabengebiet bibliothekarischer Arbeit. Bibliotheken haben deshalb vermehrt auf aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaftswelt punktuell und bedarfsorientiert mit immer neuen Unterstützungsangeboten reagiert. Dies führte etwa zur Etablierung von Publikationsservices, Repositorien, Bibliometrieabteilungen oder Services im Forschungsdatenmanagement. Andere Bibliotheken wiederum mühen sich, oft aufgrund einer geringeren Anzahl an Mitarbeiter:innen, es den anderen Bibliotheken gleich zu tun, da dies nun scheinbar zum Servicekanon und Standard einer modernen Bibliothek gehört und man in bibliothekarischen Kreisen nicht hinterherhinken will. Zudem wird so im Umfeld der eigenen Universität den vermeintlichen Bedürfnissen der Benutzer:innen gerecht geworden und die Legitimation wie auch Relevanz der Bibliothek aufgezeigt. Predatory Publishing war in den letzten 10 Jahren ebenso eine dieser Entwicklungen innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation, wo Bibliotheken einen Bedarf erkannt und ein neues Handlungsfeld für sich beansprucht haben.

A signal is not a trend. A trend is not a future. A future is not THE future. 2

Das Postulat des bedarfsorientierten Angebotes erweckt dabei den Anschein, dass, oft auf Kosten traditioneller bibliothekarischer Arbeit, ein neues Serviceangebot dem nächsten folgt. Entwicklungen und deren Relevanz und Signifikanz für bibliothekarische Arbeit werden hierbei antizipiert ohne, wie es scheint, zu bedenken, dass „ein Signal noch kein Trend, ein Trend noch nicht eine Zukunft und eine Zukunft nich DIE Zukunft“ ist. Das Portfolio an Angeboten rein bedarfsorientiert und anlassbezogen immer weiter und weiterzu vergrößern, wieder und wieder zu adaptieren ist nicht nachhaltig – auch Agilität und Resilienz haben ihre Grenzen und Ressourcen sind enden wollend. Ein Innehalten ist geboten, um die grundsätzliche Frage zu stellen, was nun die Rolle von Bibliotheken bzw. Bibliothekar:innen, die damit befasst sind, ist? Open Access und Open Science und damit einhergehend die Erschliessung der Felder wissenschaftlichen Publizierens und wissenschaftlicher Kommunikation stellen Bibliotheken vor die Herausforderung sich neu zu verorten, sowohl was ihr Selbstverständnis als auch ihre Rolle betrifft. In unserem Projekt „Predatory Publishing“, Teil von AT2OA2, stellen wir uns genau ebendiese Fragen: Was ist unsere Rolle als Bibliothek? Warum nehmen wir uns gewisser Themen an, wie etwa Predatory Publishing? Was und wen wollen wir erreichen, und wie kann dies gestaltet werden?

Bislang waren wissenschaftliche Bibliotheken mit wissenschaftlichen Publikationen nach deren Erscheinen befasst. Damit untrennbar verbunden ist die Neutralität von bibliothekarischer Arbeit, dem Nicht-Bewerten von wissenschaftlichen Publikationen und deren Qualität. Man kann hierbei von einer Rolle der Vermittlung und des Ermöglichens sprechen, in diesem Fall in Hinblick auf den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur. Anwaltschaft galt es vor allem in den Verhandlungen mit Verlagen zu ergreifen, sei es bezüglich Kosten oder den Zugangsbedingungen wie auch in der Vermittlung zentraler Kompetenzen und Skills im Rahmen von Informationskompetenz. Der Fokus bibliothekarischer Arbeit hat sich mit den Entwicklungen der vergangenen Jahre geweitet: von der Sorge, Sorge im Sinne von Fürsorge, um wissenschaftliche Publikationen zur Sorge um das wissenschaftliche Gemeingut, da Bibliotheken und Forschungsservices nun am gesamten Prozess wissenschaftlicher Kommunikation in unterschiedlichen Graden und Maßen, auch abhängig von den Gegebenheiten und Möglichkeiten der jeweiligen Universität, teilhaben. Dies beginnt mit den Forschungsdaten und geht hin bis zu Fragen der Verbreitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Wenn man Sorge für etwas trägt, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Verantwortung, die damit einhergeht, denn als Bibliothekar:innen haben wir, zum Beispiel, wesentlichen Anteil an der Entstehung, Entwicklung und Förderung von Open Access und damit auch eine Verantwortung, vielleicht auch bis hin zu einer Fürsorgepflicht.

Was bedeutet dies nun in Hinblick auf Predatory Publishing? Oft werden diese Praktiken als die Kehrseite des Open Access beschrieben. Dies greift aber zu kurz. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dieser Thematik bringt einen schnell zu grundlegenden Themen der guten wissenschaftlichen Praxis und der Publikationsethik. Bibliotheken sind herausgefordert sich dazu in Bezug zu setzten. Dies beginnt mit der grundsätzlichen Frage, ob diese ethische Dimension nicht eigentlich eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Communities ist und Bibliotheken sich auf die Rolle des Informationsvermittlers und Administrators beschränken sollten. Wie weit können und sollen Bibliotheken hier auch eine Rolle der Anwaltschaft übernehmen? Was ist dann mit der vielbeschworenen Neutralität? Erst kürzlich gab es auf der amerikanischen scholcom-Liste eine interessante Diskussion, in der es um die Rolle der Bibliotheken bzw. institutioneller Repositorienbetreiber ging, wenn diese mit Artikeln, die in Predatory Journals erschienen sind, konfrontiert werden. Sollen Bibliothekar:innen neutral sein, also Artikel in Repositorien hochladen, auch weil der Artikel selbst ja qualitätvoll sein kann, oder sollen sieeine aktivere Rolle einnehmen, indem sie zum Beispiel den Artikel ablehnen. Eine letztgültige Antwort wurde nicht gefunden, vielmehr standen sich die zwei Positionen jeweils mit durchaus validen Argumenten gegenüber, ein Zeichen, dass hier ein Prozess der Verortung, der Standortbestimmung, der Positionierung noch im Werden ist. Gleiches gilt auch für die Frage wie in der Beurteilung von und der Beratung zu vermeintlichen Predatory Journals vorgegangen werden soll. Der Wunsch und das Bedürfniss der Nutzer:innen ist deutlich, in einer für sie undurchsichtigen Angelegenheit, die für ihre Praxis und ihr berufliches Fortkommen zentral ist, Klarheit und Eindeutigkeit zu bekommen. Wer mit dem Themenkomplex Predatory Practices befasst ist, weiß, dass dies nur in seltenen Fällen so einfach möglich ist.

Was ist nun der Anspruch von uns Bibliothekar:innen, welche Werte und Prinzipien liegen unserem Handeln zu Grunde? Grundsätzlich ist festzuhalten, dass wir nicht Teil der Praxis wissenschaftlichen Publizierens sind, nicht Teil der wissenschaftlichen Community. Daraus ergibt sich, ganz im Sinne der Neutralität bibliothekarischer Arbeit, dass nicht gestalterisch eingegriffen werden sollte, also keine Handlungsdirektive erfolgen sollten. Im Englischen gibt es den Begriff der ‚informed decision‘, der hilfreich ist, unsere Tätigkeit genauer zu fassen. Wichtig ist, gerade auch in Hinblick der Sorge um das wissenschaftliche Gemeingut, es Forschenden zu ermöglichen, die für sie besten Entscheidungen für die Publikation ihrer Forschungsleistung zu treffen. Dies umfasst die kontinuierliche Vermittlung von Information und Wissen nicht nur zu Predatory Practices sondern auch zur Veränderung wissenschaftlicher Kommunikation. Die Beratung zu vermeintlich unseriösen Zeitschriften, deren Evaluierung mit einem kritischen Blick und, daran anschließend, die Aufbereitung der Ergebnisse als einer Grundlage, die die Entscheidung nicht vorwegnimmt sondern die Vielschichtigkeit darlegt und eine informed decision grundlegt, sind weitere zentralen Elmente dieser Praxis. Nicht zu letzt gilt es in der Form von Outreach und Facilitation von Dialog und Austausch mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft bzw. den wissenschaftlichen Gemeinschaften vor Ort, die jeweilige Praxis kennenzulernen, zu verstehen und so, schlußendlich, eine gemeinsame, nachhaltige Praxis der Sorge um das wissenschaftliche Gemeingut zu entwicklen. Noch ist für uns Bibliothekar:innen dieses Feld der wissenschaftlichen Kommunikation Neuland, noch arbeiten zwei Communities of Practice, die der Bibliotheken und die der Forschung, nebeneinander und immer öfter zusammen. Mit und durch unsere Praxis und vor allem mithilfe beständigen Dialogs, kann hier Neues entstehen, eine neue Community of Practice, die Wissenschaft und Bibliotheken umfasst, die die Grundzüge bibliothekarischer Arbeit – Ermöglichen, Vermittlung, Anwaltschaft – fortsetzt und somit bibliothekarische Tradition fortschreibt und Bibliotheken ein Ort bleiben an dem gilt:

Welcher Hafen kann dich sicherer empfangen als eine große Bibliothek? 3


Quellen

[1] Igel, L.: Zukunft ohne Buch (2023): https://www.faz.net/-gyl-b9oov (zuletzt aufgerufen am 18/06/2024)

[2] Kleske, J.: Seedlings | Blog (2021): https://notes.johanneskleske.com/a-regular-reminder/: (zuletzt aufgerufen am 18/06/2024)

[3] Calvino, I.: Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979)